Unter Stress zu stehen ist – rein körperlich gesehen – also insoweit etwas negatives, wenn der Stress ein gewisses Maß überschreitet. Warum aber ist Stress ein so verbreitetes und großes Phänomen in unserer Gesellschaft? Ist es durch unser modernes Leben unmöglich, Stress zu vermeiden, oder worin sind die Gründe zu suchen?
Grundsätzlich kann man ja davon ausgehen, dass Menschen noch vor einem Jahrhundert weitaus mehr Gründe hatten, Stress zu empfinden als wir heute. Ein Mensch, der beispielsweise seinen Lebensunterhalt durch den Ackerbau verdiente, konnte leicht in existentielle Not geraten, wenn er eine schlechte Ernte einfuhr und damit entweder schon für seine Familie zu wenig Nahrung hatte oder sich Anschaffungen, die für seine Zukunft notwendig waren, durch die zu geringe Verkaufsmenge nicht erwirtschaften konnte. Es ist sicher eigentlich weitaus stressiger, Abgaben an einen Lehnsherren leisten zu müssen, die mehr oder weniger von der Willkür dieses Menschen abhängen – wie viele Menschen mussten sich in Zeiten einer feudalen Gesellschaftsordnung plötzlich mit dem Problem auseinander setzen, dass sie plötzlich durch einen höheren Steuersatz mehr Abgaben zu leisten hatten, Abgaben, die so hoch waren, dass ihre Existenz eventuell bedroht wurde (und dies ohne ausreichende Gegenleistungen von der gesetzgebenden Seite her).
Vor diesem Hintergrund erscheint es verwunderlich, dass Stress dennoch ein so modernes Phänomen zu sein scheint. Ein verbreiteter Erklärungsansatz ist eigentlich sehr einfach: wir wissen nicht, ob diese Menschen nicht vielleicht genausoviel oder sogar mehr Stress hatten als wir – die allgemein geringere Lebenserwartung führte einfach dazu, dass es oft durch Krankheiten und harte Lebensumstände überhaupt nicht dazu kommen konnte, dass der allgegenwärtige Stress seine negative Auswirkungen auf die Gesundheit entfalten konnte.
Von der Hand zu weisen ist dieses Argument natürlich nicht, da wir nicht wissen, inwieweit Stresssymptome mitverantwortlich waren für die geringe Lebenserwartung der Menschen noch vor einigen Jahrhunderten.
Was allerdings gegen diesen Erklärungsansatz spricht ist die Sprachwissenschaft. Wir wissen, dass Menschen Worte erschaffen für Dinge, die ihnen in ihrem täglichen Leben begegnen. Wenn heute ein neues Phänomen auftritt, welches in der Erfahrungswelt vieler Menschen geteilt wird, so werden wir bestrebt sein, diesem Ding einen Namen zu geben. Haben wir „Stress“, so suchen wir ein Wort dafür oder erschaffen ein Neues.
In der alt- und mittelhochdeutschen Sprache, aber auch im frühe Hochdeutsch (welches man ungefähr auf das 14. bis 16. Jahrhundert datieren kann) gibt es allerdings kein Wort, welches uns bekannt wäre, welches für das Phänomen Stress steht. Nach allem, was wir wissen, scheinen die Menschen früher eben kein Wort für Stress gehabt zu haben, was den Schluss nahe legt, dass ihnen diese Erfahrung weniger präsent war als uns heute.
Nun darf man nicht das Phänomen vergessen, dass die Sprache nicht nur die Lebenswelt der Menschen abbildet, sondern auch neue Erfahrungsbereiche schaffen kann. Viele Menschen erkennen eine Erfahrung erst, wenn sie das Wort dafür kennen. Man kann diesen Effekt leicht anhand das persönlichen Alltags verstehen, ohne den Bereich Stress wirklich verlassen zu müssen.
Das sogenannte „Burnout-Syndrom“, dass mittlerweile medizinisch anerkannt ist, kennen sicherlich viele Menschen. Es beschreibt einen speziellen Zustand, in dem man sich matt und müde, lustlos und unmotiviert fühlt, ohne direkt dagegen etwas unternehmen zu können. Vielleicht hätten wir, wenn wir heute von diesem Syndrom sprechen, früher gesagt, dass wir „matt“ sind oder „müde“ – dass wir solche Symptome mittlerweile oft sogar vorschnell als „Burnout-Syndrom“ beschreiben ist sicher darauf zurückzuführen, dass wir diesem Phänomen einen Namen gegeben haben.
Somit ist es nicht auszuschließen, dass Menschen sich früher auch „gestresst“ gefühlt haben, diesem Gefühl aber schlicht und einfach nicht mit einem einzigen, treffenden Wort Ausdruck verleihen konnten.
Eine Entwicklung, die wir in unserer modernen Gesellschaft allerdings beachten müssen, ist der Faktor Stress als Gesellschaftsphänomen. Spätestens seit man ein bekanntes und populäres Wort für die Erfahrung „Stress“ hat, gibt es nämlich eine Entwicklung hin zum Stress. Diese geht über die Faktoren, die durch eine schnelllebige Zeit mit einer Vielzahl von oft unübersichtlichen Anforderungen hinaus – Stress hat nicht nur Konjunktur, es ist zu einem gewissen Teil auch „in“, Stress zu haben.
Diese Aussage, die an sich widersprüchlich und nicht sehr nahe liegend erscheint, kann man leicht verstehen, wenn man darüber nachdenkt, wie viele Menschen mit dem Phänomen Stress umgehen. Man ist heute sehr schnell „im Stress“, und zwar aus dem einfachen Grund, dass Stress eine willkommene Erklärung ist, auch einmal „Nein“ zu einer Bitte oder einer Arbeit zu sagen.
Denken sie einmal über die Menschen in ihrer Umwelt nach. Schüler empfinden sich ebenso im Stress wie Studenten, Mütter, Manager und Bäcker. Nicht bei allen diesen Menschen ist es in der Tat wirklich so, dass sie sich in einer Zeit des schweren Stresszustandes empfinden – man wählt nur heute viel zu schnell dieses Wort. Ähnlich ist es bei der Grippe, eine an sich nicht so häufige Vireninfektion, die sogar tödlich ausgehen kann. Wenn jemand erkältet ist, sagt er sehr schnell, er habe eine Grippe – auch wenn die Symptome nur bedingt übereinstimmen und er eigentlich nicht mehr hat als Schnupfen und Kopfschmerzen.
Mittlerweile haben wohl sehr viele Menschen die Erkenntnis erlangt, dass es eine einfache Notwendigkeit ist, sich nicht mit allen Aufgaben zu belasten, die man theoretisch übernehmen könnte. Im Haushalt, bei der Arbeit, aber auch im Privatleben hat ein Mensch heute einen umfangreichen Kanon von Aufgaben, der bei der zwischenmenschlichen Beziehungspflege anfängt, die Arbeit einschließt und bei den kleinen Arbeiten des täglichen Lebens aufhört. Wir haben aber nicht immer Lust (und es ist sicher auch nicht immer sinnvoll) all diesen Aufgaben nachzugehen, können sie aber oft eigentlich nicht ablehnen – wer sagt schon eine Verabredung mit einem Bekannten ab, weil er „doch keine Lust“ hat?
Die Lösung, die man in diesem Fall zieht, ist daher sehr einfach: man ist im Stress, entweder real, oder zumindest in dem, was man anderen Menschen mitteilt. Da wird schon einmal schnell die persönliche Belastung übertrieben, weil man es überhaupt nicht so weit kommen lassen möchte, dass man vor Stress nicht mehr weiss, wo einem der Kopf steht. Dieses an sich völlig legitime Bedürfnis kann aber auf diese Weise nur sehr bedingt erreicht werden.
Das Problem, das aus diesem Umgang mit dem Faktor Stress entsteht, ist nämlich recht einfach: man gibt vor, mehr im Stress zu sein, als man es tatsächlich sein müsste, was die Ansicht untermauert, dass Stress der einzig legitime Grund ist, auch einmal „Nein“ zu sagen. Auf diese Weise wird das Phänomen Stress besonders im zwischenmenschlichen Bereich immer angesehener – wer im Stress ist, hat ja viel zu tun, also muss die Umwelt auch einmal Rücksicht nehmen.
Würde man den Anforderungen des Alltags verneinend gegenübertreten, ohne im Stress zu sein, würde man seine eigene Belastungsfähigkeit niedriger darstellen, als sie tatsächlich ist – und gerade diese Fähigkeit, sich zu belasten ist aber eine sehr angesehene in unserer Gesellschaft. Menschen, die immer alles tun und am Ende doch noch Kraft übrig haben, sind sehr angesehen, weil sie fleißig, ambitioniert und gefordert erscheinen – auch wenn sie diese Eigenschaften in der Tat vielleicht nicht stärker ausgeprägt haben als eine Person, die auch einmal scheinbar ohne Grund „Nein“ sagt. Wir alle möchte ein solches Bild von uns vermitteln und sind also sehr bedacht darauf, dass wir nicht den Eindruck erwecken, unserer Belastbarkeit wäre ausgereizt – wenn denn nicht der Stress da ist, der uns dazu zwingt, langsamer zu treten.
Das Gesellschaftsphänomen Stress ist weitaus stärker, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Es ist eng verbunden mit dem menschlichen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Rücksicht und stellt somit eine wichtige Möglichkeit dar, unseren Alltag zu bewältigen – zumindest scheinbar.
Das Problem ist nämlich, dass wir durch diesen Umgang mit Stress ein so positives Bild vom Stress erzeugen (indem wir ihn missbrauchen), dass es immer schwerer wird, ohne die Hilfe von Stress abzusagen und auf sich Rücksicht zu nehmen. An und für sich sind wir alle nicht verpflichtet, so viel Arbeit zu übernehmen, bis uns diese über den Kopf wächst – es geschieht aber schnell, dass es doch so weit kommt, so dass wir stressige Phasen unseres Lebens nicht nur bewältigen, sondern auch überbewerten.
Psychologisch gesehen ist dieser falsche Umgang mit Stress leicht zu begründen. Die meisten Menschen würden sich wohl wünschen, eine Zeit mit nur wenigen Anforderungen und Aufgaben zu haben (vielleicht so, wie sie es in ihrer Kindheit empfunden haben), doch lässt sich dies im Erwachsenenalter nur schwer realisieren. Durch das Vorgeben von Stress lässt sich so ein Umgang erzeugen, bei dem man dennoch eine gewisse Rücksicht und Anerkennung für seine Leistung bekommt – auch wenn diese eventuell gar nicht so hoch ist, wie man sie erscheinen lässt.