Das Phänomen, welches wir heute als Stress bezeichnen, ist eigentlich ein sinnvolles und sehr wichtiges System zur Erhaltung des menschlichen Lebens. In einer Zeit, in der viele Bedrohungen körperlicher Natur waren und es schnell an die existentiellen Notwendigkeiten gehen konnte (nämlich Überleben oder Sterben) war es sehr wichtig für den Menschen, dass er auf bestimmte Weise auf eine Krisensituation reagiert.
Wenn zum Beispiel einer unserer Vorfahren in der Frühzeit der Menschheit, der im Prinzip die gleiche körperliche Stressreaktion hatte wie wir heute, auf einen tierischen Feind traf, war es sehr wichtig für ihn, dass er seine körperlichen Reaktionen auf Kampf oder Flucht umstellte. Die Energien des Körpers wurden gesammelt und gebündelt, um sie den Muskeln zur Verfügung zu stellen, die sich bei der Flucht oder der Auseinandersetzung als nützlich erweisen konnten.
Die Reaktionen, die in einer Krise in so einer Zeit sinnvoll waren, sind recht einfach: das vegetative Nervensystem wird aktiviert, die Verdauung wird heruntergefahren, und die Muskeln werden angespannt. Die Ausschüttung von Adrenalin macht den menschlichen Körper leistungsfähiger und ermöglicht so, körperlichen Konfrontationen besser zu begegnen.
Wenn in der Frühgeschichte der Menschheit also ein Vertreter unserer Spezies zum Beispiel auf ein Raubtier traf, welches sein Leben bedrohte, konnte er durch die Stressreaktion in dieser Begegnung leistungsfähiger auftreten und so seine Chance auf Flucht oder einen Sieg im Kampf steigern.
Dies macht eine evolutionäre Überlieferung dieser Reaktion sehr zweckmäßig. Das Problem, mit dem wir uns heute auseinander setzen müssen, ist die einfache Tatsache, dass diese Reaktion in unserer heutigen Welt meist nicht mehr angemessen ist. Probleme, mit denen wir uns in unserem Alltag konfrontiert sehen bedrohen meist nicht mehr unser Leben, sondern üblicherweise nur bestimmte Gefühle oder bestenfalls unsere Finanzen. Diesen Unterschied kennt unser Körper allerdings nicht, weil die Evolution viel langsamer abläuft, als sich die Menschheit entwickelt hat – unsere genetischen Anlagen, die ja für den Aufbau unseres Körpers und somit seine Funktionsweise zuständig sind hatten in den ungefähr 100.000 Jahren, in denen unsere Spezies besteht, keine Chance, sich den neuen Herausforderungen anzupassen.
Stress ist somit ein evolutionärer Anachronismus, der mit der schnellen und besonderen Entwicklung unserer Spezies zu begründen ist.
Wenn ein Tier sich mit einer so rapiden und grundlegenden Veränderung seines Lebensraums auseinander setzen muss, wie es der Mensch in den letzten Jahrtausenden getan hat, stirbt es aller Wahrscheinlichkeit nach aus. Menschen hingegen vermögen sich ob ihrer gesellschaftlichen und geistigen Leistungen sehr wohl an solche Umwelten anzupassen, die mit der körperlichen Ebene unserer Existenz nicht mehr viel gemein haben – es ist für unseren Körper eigentlich undenkbar, dass wir unseren Lebensunterhalt beispielsweise durch das Entwerfen von Kleidern oder die Produktion von Stahlträgern bestreiten, weil diese Produkte nichts mit unseren direkten körperlichen Bedürfnissen zu tun haben. Der Mensch als gesamtes System allerdings vermag sich solchen Veränderungen meist recht gut anzupassen, eben weil er neben seinen körperlichen Reaktionen auch eine geistige Ebene mitbringt, die sehr flexibel ist. Daher ist die unpassende Reaktion „Stress“ für unsere Spezies keine Bedrohung, weil unsere Möglichkeiten der Anpassung weitaus höher sind als bei jeder anderen Spezies.
Dennoch leiden wir unter unangemessenen und nicht mehr passenden körperlichen Reaktionen, weil sie ja durch unsere Möglichkeiten zur Kompensation zwar ausgeglichen, aber nicht ungeschehen gemacht werden können.
Ein gutes Beispiel für eine solche Reaktion ist zum Beispiel neben dem Stress der Schmerz. Menschen besitzen durchaus die geistigen Fähigkeiten, Gefahren für ihren Körper zu erkennen, ohne dass diese von Schmerz begleitet werden müssten – wir könnten durch psychologische Lernprozesse durchaus erfassen, dass eine heiße Herdplatte nicht der richtige Aufenthaltsort für unsere Hand ist, auch wenn wir keinen Schmerz verspüren würden. Dass wir es dennoch tun beruht ebenso auf einer Evolution, die den Umfang der geistigen Leistungsfähigkeit eines Menschen überhaupt nicht erfassen kann – daher gibt es eine ganze Reihe von körperlichen Reaktionen, die heute deplatziert und kaum noch sinnvoll erscheinen.