Stein auf Stein

Rote Klinkerbauten sind bis heute typisch für das Landschaftsbild und die Städte Norddeutschlands. In Drochtersen, einer kleinen Stadt an der Elbe, stellt ein Familienbetrieb die Backsteine seit vier Generation im traditionellen Ringofen her.

Sind Handschuhe da?“ Diese Frage hört Matthias Rusch (34) an diesem verregneten Sommertag kurz hintereinander von zwei Mitarbeitern. Der Juniorchef des Klinkerwerks Rusch weiß, dass der Nachschub an robusten Arbeitshandschuhen für das reibungslose Funktionieren seiner Ziegelei lebenswichtig ist. Denn: Hände schichten die Rohlinge in die Gondeln des Förderbandes und dann in die Holzgestelle der mehrere Hundert Meter langen Trockenschuppen. Hände setzen die Steine im Ringofen in mehreren Lagen auf und tragen sie nach dem Brennen wieder ab. Hände legen die rauen und scharfkantigen Ziegel einzeln auf ein schmales Förderband und von dort nach Farben und Güte sortiert auf Paletten. Ungefähr zehnmal wird jeder Klinker in die Hand genommen. Das ist jedes Mal ein Gewicht von fast drei Kilo. Kein Wunder, dass da alle paar Tage neue Handschuhe fällig werden. Der Verbrauch liegt bei 500 Paar im Jahr.

Mit fünfzehn Mitarbeitern produzieren Matthias und seine Eltern Johann und Walthild Rusch jährlich über zwei Millionen Tonklinker. „Den Rohstoff gibt es an der Unterelbe von Hamburg bis Wischhafen“, erklärt Seniorchef Johann Rusch (61). Eine Maschine knetet den „Teig“, der dann durch ein rechteckiges Formstück gepresst und von einer Stahlsaite in die richtige Größe geschnitten wird. In ewig langen Schuppen trocknen bis zu 400 000 Rohlinge vier bis sechs Wochen lang. „Ostwind trocknet am schönsten“, sagt Matthias Rusch, „aber seit einiger Zeit gibt es immer häufiger ungünstige Südwestwinde.“ Wetterkapriolen kennen die Ruschs zur Genüge, denn bis zum Deichbau im Jahre 1978 hatte der Betrieb zahlreiche Sturmfluten zu überstehen.

DAS FEUER ist durch den Ofen gewandert und hat die fertigen Backsteine freigegeben (oben links). Heute wie vor 100 Jahren werden die Klinker von Hand abgeräumt und mit kleinen Karren ausgefahren (unten links). Die KlinkerRohlinge müssen vor dem Brennen überschüssiges Wasser abgeben, dazu werden sie vier bis sechs Wochen lang auf Holzregalen im zwei Kilometer langen Trockenschuppen gelagert. Mit Gondeln werden sie heute transportiert (oben rechts), früher von kleinen Pferdewagen auf Gleisen. Abhängig vom Brennstatus werden die Ofenzugänge neu verschlossen oder aufgebrochen.
Im Klinkerwerk Rusch nutzt man zum Zumauern einen umweltfreundlichen Rohstoff: Schlick aus der Elbe vor der Haustür – immer vorhanden und besser zu verarbeiten als Mörtel. Jede Türöffnung wird doppelt verschlossen, endgültig erst, wenn das Vorfeuer reguliert ist.

Ein Ringofen vom Ende des 19. Jahrhunderts

„Das ganze Gelände samt Ofen unter Wasser, Tausende Rohlinge ruiniert – ich weiß gar nicht, woher wir immer wieder die Kraft für den Neuanfang genommen haben“, sagt Walthild Rusch (55), deren Energie allerdings bis heute für die Erledigung der Büroarbeiten reicht. Sie ist die gute Seele des Betriebs und dank Handy allgegenwärtige Ansprechpartnerin.

In den Qualitätsklinkern aus Drochtersen steckt viel Handarbeit, ganz besonderes Fingerspitzengefühl jedoch verlangt der Brennvorgang im Ringofen. Ähnlich der Verwandlung vom schmutziggrauen Küken in einen prächtigen Schwan werden die wenig ansehnlichen, gräulichbeigefarbenen Rohlinge erst dort zu hübschen Buntklinkern. Dabei ist die SteinkohleBefeuerung das eigentliche Geheimnis ihrer bunten Färbung. Weil das Feuer nicht überall gleich stark brennt und Kohlereste sich unterschiedlich ablagern, ist jeder Stein ein Unikat. „In keinem Ofen der Welt werden die Klinker so bunt wie im steinkohlebefeuerten Ringofen“, sagt Matthias Rusch nicht ohne Stolz.

Imposant füllt der riesige ovale Ofen die Fabrikhalle. Ohne Unterbrechung betrieben, ermöglicht sein „wanderndes“ Feuer mehrere Arbeitsgänge gleichzeitig. Während die Männer in einer Kammer die fertigen Klinker ausfahren, setzen Kollegen nebenan bereits wieder Rohlinge auf. Der gesamte Brennvorgang dauert im Durchschnitt vierzehn Tage. Von den einst über hundert Ziegeleien entlang der Elbe fertigt nur noch das Klinkerwerk Rusch die bunten Steine auf traditionelle Weise im Ringofen. Was einmal die Ziegelproduktion revolutionierte und erstmals Massenfertigung ermöglichte, steht heute unter Denkmalschutz, und die in viel Handarbeit hergestellten Elbklinker sind alles andere als Massenware.