Der Herr der Fliesen

Fliesen gehen schon mal zu Bruch – beim Einbau einer neuen Armatur oder beim Absturz einer Parfümflasche. Was aber tun, wenn keine Reserven existieren und der Fliesenleger von damals längst im Ruhestand ist? Eine komplette Badoder Küchenrenovierung vornehmen? Das ist viel zu kostspielig! Die Rettung kommt aus Hamburg.

Also, die Fliese, die wir suchen, ist 15 x 20 cm groß und 4 mm dick. Sie ist weiß und hat so ein Muster, als ob jemand mit dem Daumen reingedrückt und gewischt hätte, verstehen Sie?“, erklärt der weißhaarige Herr. Mit erwartungsvollem Blick steht er zusammen mit seiner Frau am Tresen in Konrad Schitteks Fliesenhandel. Hier, so hatten sie gehört, solle man Fliesen bekommen, die im Handel nicht mehr zu ergattern sind. „Da sind Sie richtig informiert“, bestätigt der freundliche Mitarbeiter und konsultiert die Handkartei. Während er blättert klappert, schabt und knirscht es, denn die Kartei,.karten“ sind Fliesen und
in Gruppen nach den gängigen Größen immer im selben Farbverlauf sortiert. Angesichts eines beeindruckenden Stapels weißer Fliesen mit nuancenreichen Mustern wird das Ehepaar aus dem Kreis Se-geberg unsicher. Haben die Vertiefungen vielleicht doch eher die Form von Regentropfen?

Konrad Schittek kennt diese Schwierigkeiten und rät deshalb immer wieder: „Bringen Sie eine Fliese mit! Ein Bruchstück genügt, aber wir müssen in der Lage sein, Muster und Farbe mit unserer Kartei zu vergleichen.“ Der Mann denkt in Fliesenmustern und hat unzählige Hersteller- und Dekornamen im Kopf. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man weiß, dass der ausgebildete Musiker einst in einem Symphonieorchester Klarinette und Saxofon spielte. Nebenher hat er auch gemalt – als Hobby zunächst, aber bald ausstellungsreif. Weil er auch Fliesen bemalt hat, erkundigte sich ein Freund, ob er ihm wohl eine Fliese nachmachen könne. Der Versuch gelang, so dass bald der nächste Interessent kam, dem weitere folgten.

Eher zufällig wurde auf diese Weise eine neue Geschäftsidee geboren.

„Kein Land ist so fliesenverrückt wie Deutschland“, weiß Konrad Schittek, „aber eine Nachkaufgarantie wie beispielsweise bei Porzellan oder Bestecken gibt es nicht.“ So richtig ging es los mit den Fliesen in der Zeit Ludwig Erhards, das Wirtschaftswunder machte auch vor Badezimmern nicht halt. Viel hat sich verändert. Wo ehemals der Badeofen einmal die Woche angeheizt wurde, whirlt heute der Pool in einer „Erlebnisoase“ mit aufwendig und teuer gestalteten Fliesenflächen.

„Ich kenne Leute, die ihre 30 Jahre alten Fliesen liebevoll pflegen. Da ist eine kaputte Fliese ein Drama. Die Besitzer sind überglücklich, wenn sie bei uns Ersatz bekommen“, erzählt der Fliesenfachmann. Um auch mal einzelne Fliesen anzufertigen, stehen drei Brennöfen zur Verfügung. Als Autodidakt weiß er alles über das Brennen von Ton- und Keramikfliesen und hat sich in die Chemie der Farben und Glasuren eingearbeitet. Bekannte Markenfirmen bestellen Sonderanfertigungen „Made by Schittek“.

Seit über 20 Jahren bestimmen Fliesen sein Leben. Auf Reisen quer durch die Republik erwirbt er Restbestände oder Ware aus Insolvenzen. Mit den Jahren ist der Bestand so stark angewachsen, dass er die Kapazitäten des Firmensitzes in Hamburg gesprengt hat. Im Alten Land, dem Obstanbaugebiet vor den Toren der Hansestadt, bezog er einen ausgebauten Kuh-und Schweinestall. In das Landschaftsbild fügen sich die Hallen dahinter. Statt Äpfeln, wie bei den Nachbarn, lagern dort in unglaublicher Größen-, Muster- und Farbenvielfalt Industriefliesen aus den letzten 40 Jahren – fünf Etagen hoch, jede Palette mit einem Gewicht von 1,8 Tonnen. Der Herr der Fliesen pflegt engen Kontakt zu Herstellerfirmen und spricht regelmäßig mit Fachleuten der Baumärkte, Fliesenfachgeschäfte und Verlegebetriebe. „Dieser Austausch ist wichtig, weil ich immer im Auge haben muss, welche Fliesen den Zeitgeschmack getroffen haben. Schließlich spielt für mein Angebot die Nachfragewahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle.“ Unter Eingeweihten gilt er längst als Geheimtipp, aber der Name Schittek hat auch in den Schadenabteilungen deutscher Versicherungsunternehmen einen guten Klang. Dort schätzt man es, einzelne Fliesen zu ersetzen, wenn die Alternative Totalrenovierung heißt.

Einige Hand- und Heimwerker kommen persönlich in den kleinen Ort hinterm Elbdeich, wo der ungewöhnliche Fliesenhandel neben dem Chef acht weitere Menschen in Lohn und Brot hält. Zwei Drittel des Geschäfts werden per Post abgewickelt. Täglich gehen Fliesenbruchstücke ein und die Handkartei verrät, ob das Gewünschte vorhanden ist. Anfragen kommen auch aus Holland, Frankreich und Österreich.

Dass man ohne Muster auf verlorenem Posten steht, hat schließlich auch das Se-geberger Ehepaar eingesehen. Nie hätten sie geglaubt, dass es so viele verschiedene weißgemusterte Fliesen gibt. Ehrfürchtig, aber auch in den Glauben an das eigene Erinnerungsvermögen erschüttert, verlassen sie das Haus. Der Name Schittek hat sich ihrem Gedächtnis eingeprägt. Und gleich morgen werden sie ihre Musterfliese losschicken.

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